„Licht für die Völker und Herrlichkeit für Israel"
Juden und Christen in dem einen Plan Gottes
Vortrag zum Tag des jüdisch-christlichen Dialogs
Frascati, 17. Januar 2011
1) Vor einem Jahr: Besuch von Papst Benedikt in der Synagoge von Rom
Vor genau einem Jahr, am 17. Januar 2010, hat das Oberhaupt der Katholischen Kirche zum zweiten Mal in einer zweitausendjährigen Geschichte die Synagoge von Rom betreten. Nach dem historischen Besuch von Johannes Paul II. wollte auch Benedikt XVI. einer der ältesten jüdischen Gemeinden außerhalb Israels, die in der Ewigen Stadt schon vor der Ankunft der ersten Christen ansässig war, seine Wertschätzung bezeugen. Mit dieser Geste hat Papst Ratzinger einen weiteren Beweis seiner Nähe und Zuneigung zum jüdischen Volk gegeben. Er hat die Verpflichtung erneuert, die die Kirche vor fast 50 Jahren übernommen hat, als das 2. Vatikanische Konzil eine neue Phase in der spannungsreichen Beziehung zwischen Katholiken und Juden, Kirche und Synagoge eröffnete.
Am heutigen Abend wollen wir einige Anregungen aufgreifen, die Papst Benedikt in seiner Rede an jenem Tag gegeben hat. Vor allen Dingen möchte ich mit Ihnen zusammen über die Grundlagen der jüdisch-christlichen Beziehung nachdenken, wie sie sich aus der Heiligen Schrift ergeben. Die bibeltheologische Forschung ist in der Tat ein wesentliches Mittel, nicht nur um den Anderen, sondern auch um sich selber besser zu verstehen. Der Papst hat uns ermutigt, diese Mühe auf uns zu nehmen, als er sagte: „Unsere geistliche Nähe und Brüderlichkeit finden in der Heiligen Schrift ihr solides, ewiges Fundament, aufgrund dessen wir uns beständig vor unsere gemeinsamen Wurzeln, vor unsere gemeinsame Geschichte und das reiche geistliche Erbe gestellt sehen."
Das Studium der Bibel muss sodann durch die historische Forschung ergänzt werden, um das Dunkel wegzunehmen, das noch immer viele Aspekte unserer gemeinsamen Geschichte umhüllt. Dazu sagte der Papst: „Die Kirche hat es nicht versäumt, die Fehler ihrer Söhne und Töchter zu beklagen, und hat um Verzeihung für all das gebeten, was in irgendeiner Weise der Geißel des Antisemitismus und Antijudaismus Vorschub geleistet haben kann."
In Erinnerung an die tragischste Epoche der jüdischen Gemeinde, die Verfolgungen durch die Nationalsozialisten, denen auch in Rom viele Menschen zum Opfer fielen, fügte er hinzu: „Die Erinnerung an diese Ereignisse muss uns dazu anspornen, die Bande, die uns einen, zu stärken, damit immer mehr das Verständnis, der Respekt und die gegenseitige Annahme wachsen."
Ursprünglich hatte ich die Absicht, einige Ereignisse der Vergangenheit aufzuzählen, die auch heute noch Steine des Anstoßes im jüdisch-christlichen Dialog darstellen. Vor etwa einem Monat ist aber eine Nachricht verbreitet worden, die mir erlaubt, von dem positiven Beispiel eines Menschen zu erzählen, der sich unter schwierigen Umständen seinen jüdischen Mitbürgern als wahrer Bruder erwiesen hat. Dieser Fall berührt uns besonders, weil er sich hier in der Diözese Frascati ereignet hat.
2) Ein Gerechter unter den Völkern: P. Raffaele Cubbe
Am 14. Dezember des vergangenen Jahres hat das Institut "Yad Vashem" (Jerusalem) im Priesterkolleg "Il Gesù" in Rom die Medaille „Gerechter unter den Völkern" verliehen. Mit diesem Titel wird das Gedächtnis an die Personen wachgehalten, die während der Zeit der Shoah ihr Leben riskiert haben, um Menschen - und sei es auch nur einen - zu retten. Bei dieser Gelegenheit ist die Medaille einem bereits verstorbenen Priester aus dem Jesuitenorden verliehen worden, P. Raffaele Cubbe. Zwischen 1942 und 1947 war er Rektor des „Nobile Collegio di Villa Mondragone", seinerzeit ein Knabenkonvikt für die Söhne der oberen Schichten.
Während der Besatzung von Rom, vor allem nach dem 16. Oktober 1943, als die Nazis im Ghetto eine Razzia veranstalteten und mehr als 1.000 Personen nach Auschwitz deportierten, suchten viele Familien Zuflucht in der römischen Campagna, auch in der Umgebung von Frascati. Unter diesen Umständen gelangten drei jüdische Knaben, Marco Pavoncello sowie die Brüder Graziano und Marco Sonnino, in die Villa Mondragone. Pater Cubbe, der sehr wohl um ihre jüdischen Herkunft wusste, nahm sie auf und versteckte sie mehr als drei Jahre lang unter den anderen katholischen Zöglingen. Dank der heroischen und selbstlosen Hilfe dieses Priesters überlebten die drei Jungen die Kriegsjahre; darüber hinaus konnten sie ihre normale Schulausbildung fortsetzen. Und nicht nur dies: Pater Cubbe respektierte immer ihre jüdische Identität, indem er ihnen z.B. erlaubte, ihre Speisegesetze einzuhalten.
Am Tag der Ehrung (Pater Cubbe starb im Jahr 1983) erzählte einer der drei Zöglinge von damals, Marco Pavoncello, wie das Leben im Kolleg ablief: „Die Stimmung war heiter. Man aß, man spielte, man lernte, man ging zur Kirche. Eine Sache muss noch gesagt werden: Es hat nie, auch nicht in den folgenden Jahren, den Versuch einer Bekehrung gegeben, nie irgendein Drängen, wie es auch nie einen Akt von Antisemitismus gab, weder bei den Zöglingen noch bei den Priestern."
Auf die Frage nach seinen Empfindungen für den verstorbenen Rektor, 65 Jahren danach, sagte er: „Es macht mich glücklich und bewegt mich sehr, wenn ich mich an Pater Cubbe erinnere. Die Emotion bezieht sich auf einen für uns Juden schrecklichen Augenblick, nämlich die nationalsozialistische Verfolgung, das Glück entspringt der Möglichkeit, nun endlich einem Menschen danken zu können, dem ich und meine Familie zu unendlicher Dankbarkeit verpflichtet sind."
P. Cubbe war eine außerordentliche Persönlichkeit, die aufgrund ihres Glaubens und ihrer reichen Kultur im Unterschied zu vielen anderen wusste, dass Christen und Juden Glieder derselben Familie Gottes sind. Ich halte es für wichtig, an seine historische Tat zu erinnern, nicht nur um sein Andenken zu ehren, sondern damit uns sein Beispiel helfe, Ignoranz und Gleichgültigkeit zu bekämpfen, die uns auch heute daran hindern, im Antlitz des anderen den Bruder zu erkennen.
3) Das Volk Israel und die Heidenvölker im Alten Testament
Ein einzelner Vortrag kann nicht alle biblischen Zeugnisse über die engen Verbindungen zwischen dem jüdischen Volk und der Kirche erschöpfend behandeln. Da ich eine Wahl treffen muss, möchte ich heute abend jene Vorstellungen präsentieren, die sich wegen ihrer bildhaften Konkretheit am leichtesten dem Gedächtnis einprägen. Ich möchte drei Bilder vorstellen, eines aus dem Alten, die beiden anderen aus dem Neuen Testament, die - jedes in seiner Weise - den einzigartigen göttlichen Plan zum Ausdruck bringen, der Juden wie Christen umfasst: der Berg, auf dem sich alle Völker der Welt als Pilger einfinden; die Mauer, die einst die Menschheit teilte und schließlich von Jesus Christus niedergerissen wurde; der Baum, der durch eine Wurzel genährt wird und in der Fülle seiner Blätter erstrahlen soll.
a) Die Völkerwallfahrt (Micha 4)
Das zentrale Ereignis der gesamten biblischen Offenbarung ist die Begegnung Gottes mit dem Menschen, genauer, mit einer besonderen Gruppe von Personen: dem Volk Israel. Dieses Volk hat im Lauf seiner Geschichte die Gesetze entdeckt, nach denen die Welt geschaffen wurde und besteht, und die Normen, die das soziale Zusammenleben regeln. Israel hat versucht, diese Regeln zu beachten, nicht nur im ethischen Verhalten des Einzelnen, sondern vor allem auch im Leben des ganzen Volkes. Viele Jahrhunderte lang hat es täglich mit ganzer Kraft versucht, Gerechtigkeit und Frieden zwischen den einzelnen Gliedern der Gesellschaft zu verwirklichen, und hat so, über Fehlschläge und Erfolge hinweg, entdeckt, was Gott will, seinen Plan für das Heil der Menschen. Diese Erfahrungen wurden dann in der Torah niedergeschrieben, die nicht nur und nicht in erster Linie „Gesetz" ist, sondern „Weisung" für ein gelungenes Leben.
Doch Israel war immer ein kleines Volk, und die Welt wurde von weitaus mächtigeren Nationen regiert. Um Frieden in einer globalen Dimension zu schaffen, genügte es nicht, dass nur ein Volk diese alternative Lebensform praktizierte. Deswegen fragten sich einige Personen, die einen größeren Weitblick besaßen: Müssten nicht auch die heidnischen Nationen die Grundregeln der Torah kennenlernen? Müssten nicht auch sie die Weisung Gottes akzeptieren, ohne notwendigerweise Juden zu werden? Aber in welcher Weise könnten sie Kenntnis erlangen vom heilschaffenden Plan Gottes?
Inspiriert durch derartige Fragen entwickelten die Propheten Israels eine neue Theologie der Völker, eine Vision, die neben dem Volk Gottes auch die heidnischen Nationen umfasst. Sie sagten eine gewaltige Völkerwanderung voraus, nicht zur Eroberung von Ländern und Reichtümern, sondern auf der Suche nach einem viel kostbareren Gut: dem Frieden.
Der erste, der diesen Gedanken der Völkerwallfahrt artikulierte, war der Prophet Micha:
„Am Ende der Tage wird es geschehen: Der Berg mit dem Haus des Herrn steht fest gegründet als höchster der Berge; er überragt alle Hügel.Zu ihm strömen die Völker. Viele Nationen machen sich auf den Weg. Sie sagen: Kommt, wir ziehen hinauf zum Berg des Herrn und zum Haus des Gottes Jakobs. Er zeige uns seine Wege, auf seinen Pfaden wollen wir gehen. Denn von Zion kommt die Weisung, aus Jerusalem kommt das Wort des Herrn.
Er spricht Recht im Streit vieler Völker, er weist mächtige Nationen zurecht bis in die Ferne. Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg." (Micha 4,1-3)
Lassen wir uns einen Augenblick von dieser wunderbaren Vision beeindrucken, von dem enormen Optimismus, den diese Zeilen zum Ausdruck bringen. Der Prophet ist überzeugt, dass Gott Gedanken des Heils für alle Völker der Welt hegt. Er vertraut darauf, dass die ganze Menschheit einem glücklichen Geschick entgegengeht, dass Friede, nicht Krieg das letzte Wort der Menschheitsgeschichte sein wird.
Aber was ist es, das eine solche Anziehungskraft auf die Völker ausübt? Was treibt sie an, eine mühsame Reise zu unternehmen, die alle zusammen auf dem Berg Zion vereint, in der Hauptstadt des Volkes Israel? Sie sind keine Kaufleute auf der Suche nach Schätzen. Sie sind keine Touristen, die die Schönheit von Gebäuden und Plätzen bewundern. Es ist nicht einmal der wunderbare Kult mit seinen Opfern, den Prozessionen, den Gesängen, den Prachtgewändern der Priester, der eine solche Anziehungskraft ausübt! All das und noch viel mehr gibt es bei ihnen auch. Stattdessen suchen die Heidenvölker etwas, das sie anderswo nicht finden können, den Ort, wo die Gerechtigkeit verwirklicht wird, wo im menschlichen Zusammenleben ein Gleichgewicht zwischen Freiheit und Solidarität besteht, wo unter der Herrschaft Gottes Friede und Freude herrschen.
Was geschieht mit den Völkern, wenn sie auf dem Berg angekommen sind? Sie tun dasselbe, was Israel immer getan hat: sie lernen Torah, nicht alle einzelnen Gebote, sondern soviel, wie nötig ist, um die sozialen Beziehungen mit einem neuen Geist zu erfüllen. Sie bekehren sich nicht zum Judentum, sondern behalten ihre Identität. Sie kehren in ihre Heimat zurück, um einen radikal neuen Lebensstil zu verwirklichen. Sie bereiten keinen Krieg mehr vor, weil sie sich nicht mehr durch die anderen, die dieselbe Lektion gelernt haben, bedroht fühlen. Die Beachtung der göttlichen Gebote hat sie von der Furcht befreit, die die Grundlage jeder Aggression ist.
Das Ergebnis, das Glück eines friedlichen Zusammenlebens, wird in einer idyllischen Szene ausgedrückt: „Jeder sitzt unter seinem Weinstock und jeder unter seinem Feigenbaum, und niemand schreckt ihn auf. Ja, der Mund des Herrn der Heere hat gesprochen." (Micha 4,4)
Diese wunderbare Vision (wie gut sie doch zur Umgebung der Castelli Romani passt!) ist eine Einladung an alle Menschen, ein Angebot, das jeder in Freiheit annehmen kann. Aber da er sich der Reaktion der anderen nicht sicher sein kann, fühlt der Prophet das Bedürfnis, noch eine Ermahnung an seine Volksgenossen zu richten: „Denn alle Völker gehen ihren Weg, jedes ruft den Namen seines Gottes an; wir aber gehen unseren Weg im Namen Jhwh's, unseres Gottes, für immer und ewig." (Micha 4,5)
Es gibt keine Garantie, dass die anderen Völker die Einladung annehmen. Aber selbst wenn sie sie ablehnen, dürfte Israel nicht zögern, auf diesem Weg voranzugehen und schon jetzt den Frieden zu verwirklichen, dessen die anderen sich erst „am Ende der Zeiten" erfreuen können. Israel müsste die Gerechtigkeit bei sich selbst verwirklichen, um zu zeigen, was die Früchte eines Lebens nach den Grundsätzen der Torah sind.
Der heilschaffende Plan Gottes ist ein einziger für alle Völker. Und dennoch muss eines den Anfang machen, diesem Plan folgen und Pionier sein, in der Hoffnung, dass die anderen, fasziniert von Israels Lebensmodell, dem Beispiel folgen werden.
4) Juden und Christen nach dem Neuen Testament
Während vieler Jahrhunderte war die prophetische Vision von der Völkerwallfahrt eine unerfüllte Erwartung. Die Kluft zwischen dem jüdischen Volk und den heidnischen Nationen schien unüberwindbar und der göttliche Plan, alle Völker in einer Familie zu vereinen, eine Utopie.
Umso größer war die Überraschung, als es einem einzelnen Menschen, nicht einem Priester des Tempels in Jerusalem, sondern einem einfachen Schreiner, Bewohner des verachteten Galiläa, gelang, ein für allemal die Mauer niederzureißen, die die Menschheit in zwei Teile spaltete.
a) Die Trennungsmauer - niedergerissen (Eph 2,12-14)
Jesus selbst hatte wenig Kontakt mit Heiden; die Evangelien erzählen von nur drei Begegnungen mit Nichtjuden: ein römischer Hauptmann bittet ihn, seinen kranken Diener zu heilen (Mt 8,5-13), eine kanaanäische Frau legt Fürbitte für ihre besessene Tochter ein (Mt 15,21-28), eine übelbeleumundete Samariterin trifft ihn am Brunnen und gibt ihm zu trinken (Joh 4,1-42). Jesus sucht nicht den Kontakt mit diesen Leuten, sondern begegnet ihnen zufällig, oder sie selbst heften sich an seine Fersen, weil sie von seiner heilenden Kraft gehört haben. Oft zeigt er sich unwillig, ihre Bitte zu erfüllen; einmal ist seine Reaktion besonders abweisend: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen." (Mt 15,26)
Jesus war überzeugt, dass es seine Mission war, „das Brot den Kindern zu geben", d.h. das Wort Gottes dem Volk Israel zu verkünden, seine Wunden zu heilen und es auf diese Weise als Gesellschaft wiederherzustellen, die die Gerechtigkeit und das Erbarmen Gottes widerspiegelt.
Dann lässt er sich aber auch wieder beeindrucken von dem Vertrauen, das diese Heiden ihm gegenüber an den Tag legen, von ihrer großen Sehnsucht, das Heil zu schauen - bis dahin, dass er bekennen muss, unter den eigenen Volksgenossen einen derart großen Glauben nicht gefunden zu haben (vgl, Mt 8,10; 15, 28). Die Begegnung mit diesen zwei oder drei Heiden bekräftigt in ihm die Überzeugung, dass sich die alte Weissagung erfüllen wird: „Ich sage euch: viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen" (Mt 8,11).
Diese Voraussage sollte sich erst nach dem Tod Jesu erfüllen, dank des Wunders von Ostern, das die Gemeinde der Jünger ins Leben rief. Eine große Zahl von Menschen, die schon vorher eine hohe Wertschätzung für den jüdischen Glauben hatten, aber zögerten, ihn mit allen seinen Vorschriften anzunehmen, bat jetzt um Aufnahme in die Gemeinde. Beim Nachdenken über die Bedeutung des Todes und der Auferstehung Jesu kamen die Apostel zu dem Schluss, dass sie deren Bitten nicht zurückweisen durften, sondern sie in die Gemeinde aufnehmen und in jener Lebensform unterweisen mussten, die sie selbst von Jesus gelernt hatten.
In den folgenden Jahrzehnten wuchs die Zahl der nichtjüdischen Christen beträchtlich an, derart, dass sich die Zusammensetzung der Gemeinde von Grund auf änderte. Auf einmal fanden sich beschnittene Juden, die im jüdischen Glauben aufgewachsen waren und die mosaischen Gebote hielten, zusammen mit Heiden, die nicht beschnitten und daher nicht gehalten waren, alle Gebote zu beachten. Wir wissen auch, in welcher Stadt zum ersten Mal eine solche gemischte Gemeinde entstand: in Antiochien in Syrien. Die Nachbarn stellten es mit Staunen fest und nannten die Mitglieder der Gemeinde mit einem neuen Namen: „Christen", die Anhänger Christi.
Der Glaube an Jesus Christus hatte etwas völlig Neues hervorgebracht, eine neue Gesellschaft. Die zwei Gruppen, seit Menschengedenken scharf voneinander getrennt - auf der einen Seite die Juden als auserwähltes Volk, auf der anderen die Heiden, ehemalige Götzendiener - waren nun um denselben Tisch versammelt, aßen und beteten gemeinsam, teilten miteinander alle Bedürfnisse des Lebens. Die Mauer einer tausendjährigen Trennung war niedergerissen.
Der Apostel Paulus preist in seinem Brief an die Gemeinde von Ephesus dieses Wunder mit folgenden Worten:
„Erinnert euch also, dass ihr einst Heiden wart und von denen, die äußerlich beschnitten sind, Unbeschnittene genannt wurdet. Damals wart ihr von Christus (dem Messias) getrennt, der Gemeinde Israels fremd und vom Bund der Verheißung ausgeschlossen; ihr hattet keine Hoffnung und lebtet ohne Gott in der Welt.Jetzt aber seid ihr, die ihr einst in der Ferne wart, durch Christus Jesus, nämlich durch sein Blut, in die Nähe gekommen.
Denn er ist unser Friede. Er vereinigte die beiden und riss durch sein Sterben die trennende Wand der Feindschaft nieder." (Eph 2,11-14)
Jesus Christus ist es, der durch seinen völligen Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters, durch das Opfer seines eigenen Lebens, die Spaltung zwischen „den beiden", Juden und Heiden, überwand, indem er eine Einheit und einen Frieden stiftete, die vorher nicht vorstellbar waren.
b) Der Ölbaum, eine Wurzel und viele Zweige (Röm 11)
Mit der Geburt der christlichen Gemeinde aus Juden und Heiden waren noch nicht alle Probleme gelöst. Die fortdauernde Existenz von Juden, die Jesus nicht als ihren Messias anerkannten, schuf ein ernstes theologisches Problem: Bildete die Kirche ein weiteres, ein zweites Volk Gottes? Oder nahm sie gar die Stelle Israels ein? Ein einziges Volk Gottes oder zwei? Dies war die drängende Frage, die eine Antwort erforderte.
Dass sich so viele Heiden zum Gott Israels bekehrt hatten und so die eschatologische Vision der Propheten verwirklichten, stellte für Paulus ein großes Mysterium dar. Endlich waren die Völker auf dem Berg Zion angekommen, aus Osten und Westen, hatten sich an den Tisch Abrahams gesetzt und begonnen, die Wege des Herrn zu lernen. Aber dies durfte kein Grund sein, sich zu rühmen, sich überlegen zu fühlen gegenüber den Angehörigen des jüdischen Volkes, die nicht zur Gemeinde gekommen waren. Um das Gefühl der Überlegenheit zu bekämpfen, das ja häufig die Neubekehrten charakterisiert, gebraucht der Apostel in seinem Brief an die Gemeinde von Rom das Bild des Ölbaums. Damit nimmt er eine Metapher der Propheten auf, die Israel mit einem grünenden Ölbaum verglichen, schön und majestätisch in der Fülle seines Blätterwerks (Jer 11,16; Hos 14,7).
Indem er dieses Element des Bildes hervorhebt, gibt der Apostel seinen Lesern eine Perspektive vor, welche die Spekulationen über die Erwählung der einen und die Verstoßung der anderen übersteigt. Was zählt, sind nicht die einzelnen Zweige, sondern die Vollständigkeit des Baumes, d.h. des Volkes Gottes. Wie der Ölbaum (ein besonders langlebiger Baum) sich dank seiner Wurzeln ernährt, hat auch das Volk Gottes tiefe Wurzeln. Es ist verwurzelt in einer langen Geschichte, die bei Abraham und Sarah beginnt und über Mose und David zu ihrem Höhepunkt in Jesus gelangt. Diese Wurzel ist heilig und deswegen ist es auch der Baum mit all seinen Zweigen, d.h. den einzelnen Glaubenden (Röm 11,16).
Mit großem Nachdruck ermahnt der heilige Paulus die neuen Gemeindemitglieder, sich nicht mit der empfangenen Gnade zu brüsten. Sie sollten sich vielmehr immer daran erinnern, dass sie von einem wilden Ölbaum stammen und ohne eigenes Verdienst auf den „heiligen Baum" Israels aufgepfropft wurden. Wie können sie sich über das eigene Heil freuen, wenn gleichzeitig andere Zweige aus dem Baum herausgeschnitten werden? Eher müssten sie das eigene Glück als Auftrag denen gegenüber betrachten, die nicht Teil der Kirche sind. Sie müssten mit aller Kraft danach streben, das empfangene Heil mit Fakten zu beweisen, indem sie alle Bereiche des Lebens nach dem Hauptgebot der Agape gestalten. Nur dies könnte die Anhänger des Mose davon überzeugen, dass sich in Jesus Christus die Verheißungen der Propheten voll und ganz erfüllt haben.
Der heilige Paulus hofft auf die Rettung ganz Israels (Röm 11,26), er hat Sehnsucht danach, dass der Baum mit all seinen Zweigen ergrüne, um so viele Früchte wie möglich zu bringen. Deshalb dürfen auch wir uns nicht mit der gegenwärtigen Situation, dass Kirche und Israel zwei klar getrennte Gruppen bilden, zufriedengeben; wir müssten sie eher als Signal dafür sehen, dass unser Glaube noch Mängel aufweist, dass unser Zeugnis für Christus noch nicht voll überzeugend ist. Anders gesagt: wir dürfen uns nicht mit der erhaltenen Gnade zufriedengeben, sondern müssen sie immer mehr in unseren Taten und Worten aufscheinen lassen.
5) „Ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung deines Volkes Israel" (Lk 2,32)
Als Maria und Joseph, 40 Tage nach der Geburt Jesu, das Kind zum Tempel von Jerusalem brachten, weissagte der alte Simeon, dass dieses Kind „ein Licht zur Erleuchtung der Heiden und zur Verherrlichung des Volkes Israel" sein werde (Lk 2,32).
Zweitausend Jahre danach hat sich der erste Teil der Verheißung erfüllt: das Evangelium ist in die entlegensten Winkel der Erde getragen worden. Der zweite Teil scheint hingegen noch weit entfernt zu sein von der Erfüllung; es gibt nur sehr wenige Juden, die mit Stolz auf den größten Sohn ihres Volkes blicken. Gleichzeitig ist bei den Christen das Bewusstsein im Schwinden begriffen, dass der Jude Jesus die Brücke ist, die Kirche und Synagoge verbindet.
Welches Bild könnte die ersehnte Einheit zwischen Christen und Juden, zwischen der Gemeinde der Anhänger Jesu und dem „Volk des Bundes" zum Ausdruck bringen?
Während der Weihnachtszeit konnte man in der Pfarrkirche von Marino eine besondere Krippe bewundern: zwischen Maria und Joseph befand sich das Jesuskind, das aber nicht in einer Krippe lag, sondern von einem Buch gestützt wurde. Jesus ist der Interpret der Schrift, er hat ihre Buchstaben in Worte und lebendige Taten übersetzt, hat all das vollbracht, was die Torah Israels vorsah. Dieses Bild erläutert in aller Schlichtheit einen Gedanken des Theologen Joseph Ratzinger: Jesus, „die Torah in Person", die Inkarnation der Torah, der in der Geschichte eines Menschen anschaulich gewordene Wille Gottes.
Ein anderes, noch tiefer reflektiertes Bild wurde von Joseph Schele realisiert, ein Architekt und Künstler, der viele Jahre, bis zu seinem Tod, in Villa Cavalletti lebte. Aus dem nicht sehr großen Ast eines Ölbaums hat er ein Kreuz geschaffen, das für eine Gemeinde bestimmt ist, die sich zur Eucharistiefeier um den Altar versammelt.
Der Sockel des Kreuzes wird durch die Torah-Rolle gebildet. Sie gründet und stützt das Kreuz, offenbart seine Bedeutung. Das Kreuz wächst aus der Torah heraus und überragt sie, schützt und segnet sie. Beide sind aufgerichtet auf einer Höhe: der Berg Sinai, wo Gott dem Volk Israel seinen Willen offenbarte - und gleichzeitig der Berg Golgotha, wo Gott seine endgültige Liebe im Leiden Christi enthüllte.
Diese Skulptur erläutert die innere Einheit zwischen der ein für allemal auf der Schriftrolle aufgezeichneten Torah und der in der Person Jesu inkarnierten Torah. Sie möchte die Sehnsucht nach der Versöhnung der beiden Völker wecken, die gerufen sind, gemeinsam Zeugnis für den Frieden Gottes abzulegen.
Ich möchte diese Reflexionen beschließen mit einem - ich würde sagen: prophetischen - Wort, das der damalige Kardinal Ratzinger in einem privaten Brief im Jahr 2003 (an Traudl Wallbrecher) äußerte. Zum Verhältnis Kirche - Israel schrieb er darin Folgendes:
„Auch wenn Gott sich die letzte Einheit vorbehalten hat und - wie es scheint - sie bis zum Ende der Zeiten aufbewahrt, ist es eine große Aufgabe, dieser Einheit entgegenzugehen und dabei jenem Frieden zu dienen, den Christus in seinem Blut gestiftet hat."
Michael P. Maier
Lehrstuhl für die Theologie des Volkes Gottes
Michael P. Maier, Priester der Diözese Rom und Mitglied der Katholischen Integrierten Gemeinde, ist Professor für Altes Testament an der Päpstlichen Universität Gregoriana und Mitarbeiter am Lehrstuhl für die Theologie des Volkes Gottes" (Päpstliche Lateranuniversität).
Übersetzung: Hans Braun